Space Matters

Susan Kelly, Ivana Marjanović feat. QueerBeograd, Sandra Schäfer, Lan Tuazon

kuratiert von Andrei Siclodi
Ausstellung in der Neuen Galerie, 21.06. – 04.08.2012

Die Ausstellung Space Matters beschäftigte sich mit der Rolle des Raums als einer Konstante künstlerischer Praktiken, die auf die Entwicklung neuer gesellschaftlicher Artikulations- und Handlungsformen abzielen. Utopische, topologische, emanzipatorische und soziopolitische Denkansätze des Räumlichen bildeten das konzeptuelle Gerüst, vor dem sich vier diskursive Positionen entfalteten, um ein differenziertes Spektrum an Fragestellungen aufzeigen.

Spätestens seit der Formulierung der allgemeinen Relativitätstheorie, eigentlich bereits seit der grundlegenden Infragestellung der Alleinherrschaft euklidischer Geometrie Mitte des 19. Jahrhunderts durch den Mathematiker G. F. Bernhard Riemann, kann „Raum“ nicht mehr als eine von BetrachterInnen bzw. von Zeit unabhängig existierende absolute dreidimensionale Größe betrachtet werden. Nichtsdestoweniger hat sich in den vergangenen anderthalb Jahrhunderten am Selbstverständnis dieser absoluten Vorstellung vom Raum als unveränderbarem Behälter im kollektiven Bewusstsein des Westens relativ wenig verändert. Wir vertrauen weiterhin primär unseren Sinnen, die uns mitteilen, dass der „Raum“, in dem wir uns bewegen und unser Leben gestalten, durch die massive Beschleunigung subjektiv betrachtet zwar „geschrumpft“ ist, jedoch weiterhin in der Dreidimensionalität tradierter Vorstellungen bleibt. Wenn man Raum jedoch als etwas Dynamisches begreift, als etwas, das zu einem bestimmten Zeitpunkt das jeweils „vorläufige Resultat der Anordnungen von Körpern auf der Basis von Handeln“ definiert (siehe Martina Löw: Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2001, S. 35), eröffnen sich Betrachtungs- und Aktionsmöglichkeiten, die uns eher erlauben zu verstehen, wie Macht sozialen Raum strukturiert – einen sozialen Raum, der politisch nach wie vor mehrheitlich auf Grundlage der epistemisch obsolet gewordenen absoluten Raumvorstellung gedacht und verhandelt wird. Die vorgestellten Positionen in der Ausstellung beschäftigten sich dementsprechend mit Grenzen, mit Begrenzungen sowie ihrer Überwindung beziehungsweise Infragestellung.

Mit der Installation The Fault of Form von Lan Tuazon, einer durch eine Videoprojektion erweiterten dreidimensionalen Skulptur („augmented sculpture“) – entstanden in der Kirigami-Technik, einer alten japanischen Handwerkkunst –, stand die Behandlung des Utopischen am Beginn der Ausstellung. „Fault of Form“ war ein Grundtenor der Kritik am Massenwohnbau, der in den 1950er-Jahren überall auf der Welt entstand. Durch die Konzentration der Kritik auf die formale und die funktionale Ebene wurde der Blick indessen weggelenkt von den sozioökonomischen Voraussetzungen und Bedingungen, die schließlich zum Verfall dieser Gebäude und der dahinterliegenden Lebensvorstellungen führte. Tuazons Arbeit bezog spezifische utopische Architekturen mit ein, um die Anwendung begrenzender Architekturen des kollektiven Lebens zur Repräsentation des Idealen zu thematisieren: architektonische Utopien des Zusammenlebens, unter anderem Johann Valentin Andreaes Christianopolis (16. Jh.) , Charles Fouriers Phalanstère (18. Jh.), Malewitschs suprematistische Stadt (Architektone, 1920er-Jahre), Chernikows Papierarchitektur (1950er-Jahre) sowie prominente Beispiele des gebauten modernen öffentlichen Massenwohnbaus – Vele di Scampia bei Neapel (1960er- und 1970er-Jahre) und Pinnacle@Duxton in Singapur (seit 2001). Mit der Kombination der Pläne und Motive dieser imaginierten und gebauten Sozial-Utopien zu einer einzelnen Raumstruktur formulierte Tuazon eine Meta-Utopie des gemeinsamen Lebens, die auch eine subjektive Geschichte utopischer Formen und Konzepte beinhaltet.

Die Hintergründe und Wege, die zur Konstituierung eines neuen politischen Raums führten, stehen im Mittelpunkt des filmischen Rechercheprojektes on the set of 1978ff von Sandra Schäfer. Die Instauration der Islamischen Republik Iran 1978/79 wird in ihrem Projekt als das Ergebnis vielschichtiger sozialer und politischer Handlungen zahlreicher involvierter AkteurInnen unterschiedlichster politischer Couleurs in- und außerhalb des nationalstaatlichen Territoriums des Iran betrachtet. Die handelnden Körper, die den politischen Raum definieren, werden sowohl als Individuen als auch als Masse begriffen. Sandra Schäfer schreibt zu ihrer Zweikanal-Videoinstallation:

„Die Iranische Revolution 1978/79 führte zum Sturz des Schah-Regimes. Kurz darauf wurde die Islamische Republik Iran ausgerufen. Eine breite Basis von Linken und Arbeitern, Slum-Bewohnern und Bauern, Bürgerlichen – inklusive Feministinnen – sowie dem Klerus unterstützten den Umsturz. Diese Revolution wurde auch im internationalen Rahmen als anti-monarchistisch, anti-imperialistisch, nationalistisch und/oder religiös gelesen.

In der Videoinstallation on the set of 1978ff verfolge ich die Fragen, warum der politische Islam zu diesem Zeitpunkt eine bedeutende Rolle spielte und weshalb die Gründung der Islamischen Republik von vielen Menschen unterschiedlicher politischer Überzeugungen und Fraktionen mitgetragen wurde. Ich betrachte die Iranische Revolution nicht als rein nationales Ereignis, sondern weite den Blick auf Verbindungen, Perspektiven und Rezeptionen in den Nachbarländern, den Mittleren Osten und den Globalen Norden aus.

Die Iranische Revolution als städtisches Phänomen rekonstruiere ich ebenso exemplarisch wie fragmentarisch anhand ihrer medialen Darstellung in Film, Fernsehen und Fotografie. Aus der Perspektive der Medienproduktion und -rezeption arbeite ich gemeinsam mit weiteren Beteiligten an einem Re-Reading der Ereignisse. Prozesse der Übermittlung und Übersetzung in verschiedene Kontexte sind ein Fokus der Betrachtung.

In der Zweikanal-Installation on the set of 1978ff werden unter anderem Beiträge aus dem bundesdeutschen Fernsehen, der BBC Persian, dem Time Magazine, Aufnahmen der Fotografen Hengameh und Kaveh Golestan, Ausschnitte aus dem Dokumentarfilm Schah Matt von Thomas Giefer und Ulrich Tilgner sowie Sequenzen über den Intellektuellen Ali Shariati eingearbeitet. Das historische Material verschränke ich mit Interviewsequenzen, Ausschnitten aus inszenierten öffentlichen Debatten und Textkommentaren.“

(zitiert nach dem Begleitbooklet zur Ausstellung The Urban Culture of Global Prayers in der NGBK Berlin. Berlin 2011. S. 44)

Susan Kelly schlug in ihrer Installation Score for a Complex Scene (Partitur für eine komplexe Szene) eine Betrachtung des Räumlichen unter performativen Bedingungen vor. Auf drei Monitoren führten drei verschiedene Personen einfache, langsame Bewegungen vor bzw. nahmen spezifische Posen ein: Kreisen, Zeigen, Sich-Drehen, Stramm-Stehen. Die Figuren wurden vor dem Hintergrund von Landschaftsaufnahmen collagiert, die die Künstlerin an Grenz-Orten zwischen Nord- und Südtirol aufgezeichnet hat. Es sind auf dem ersten Blick pittoreske Orte, an Seen, auf grünen Wiesen, an Autobahnen und Monumenten in der Landschaft. Denkt man jedoch diese Orte im Zusammenhang mit der Geschichte Südtirols, erlangen die Bilder eine weitere Bedeutung. Strommasten, aber auch im Produktionskreislauf damit verbundene Stauseen und Dämme: Durch die Gestaltungstechnik der Collage wurde in den Videos eine Anleitung zum Agieren formuliert, die keine spezifische Richtung, jedoch einen lokalspezifischen Hintergrund evoziert und zentrale Momente charakterisiert, in denen sich Geschichte verändert hat: den politischen Kampf, der in der Feuernacht 1961 die Änderung des juridischen und politischen Status Südtirols aufgezeichnet hat. Letztendlich ging es in Score for a Complex Scene um eine neue Form der Aktion, die die BesucherInnen anhand von auf Karten angebrachten Instruktionen in Anlehnung an die konkrete Poesie von Décio Pignatari durchführen konnten. Darüber hinaus bezog sich die „komplexe Szene“ auf den gleichlautenden Theaterbegriff, der die Darstellung simultaner, aber auch an unterschiedlichen Orten stattfindender Szenen auf einer Bühne beschreibt. Die gleichzeitigen Gesetzgebungen und Rechtsprechungen Tirols dies- und jenseits der nationalstaatlichen Grenze können laut Susan Kelly als eine „komplexe Szene“ verstanden werden: als ein „komplexes Territorium, das KartografInnen, KünstlerInnen und PolitikerInnen gleichermaßen herausfordert, dessen verknotete Geschichten, Herrschaftsformen und Orientierungen zu beschreiben“.

Die Praxis zur Konstitution eines emanzipatorischen Raums, der die Potenz aufweist, eine Kritik an der hegemonialen Dynamik eines scheinbar übergeordneten emanzipatorischen Diskurses zu formulieren, spielt eine zentrale Rolle im Projekt KVARenje queer-a (deutsch etwa: Störangriff auf Queer) von Ivana Marjanović. Durch eine Analyse der Arbeitsweisen und -ansätze lokaler bzw. transnationaler Kollektive wie etwa QueerBeograd soll ein Bezug zwischen Nationalismuskritik, Konservativismus von im postkommunistischen Übergang befindlichen Staaten und der neokolonialistischen Realität in Osteuropa hergestellt werden. Ivana Marjanović schreibt dazu:

KVARenje queer-a verfolgt eine Repolitisierung des Begriffs ‚queer‘ durch die Hinterfragung der geopolitischen Determinanten, die die dominante Genealogie des Begriffs formen – eine Genealogie, die den ‚Osten‘ zu einem Raum des Rückständigen zurückstuft. KVARenje queer-a fordert reduktionistische Ost-West-Binaritäten heraus, durch die Vorstellung alternativer Geschichten der Queer-Kultur, wie etwa dissidenter Strömungen innerhalb der queeren Bewegungen selbst, transnationaler Bestrebungen einer Redefinition des Queer-Seins sowie lokal konnotierter Produktion von Geschlechter- und Politikdifferenz durch Kunst, visuelle Kultur, Aktivismus und Subkultur im ehemaligen sozialistischen Jugoslawien sowie davor und danach.

KVARenje queer-a nimmt als Ausgangspunkt der Untersuchungen den Vorschlag des transnationalen Kollektivs QueerBeograd, ‚queer‘ im Serbischen als ‚kvar‘ zu übersetzen. ‚Kvar‘ meint die Fehlfunktion einer Maschine und bezieht sich bei QueerBeograd auf die Definition von queerer Politik als Konnex verschiedener Kämpfe gegen Unterwerfungen, wie den Anti-Kapitalismus, Anti-Rassismus, Anti-Faschismus, den feministischen/postfeministischen/queeren/LGBT-Kampf gegen das Patriarchat und die Heteronormativität. ‚Kvar‘ bedeutet, die Fehlfunktion in einer kapitalistischen, rassistischen, faschistischen und homophoben Gesellschaftsmaschinerie darzustellen und zu zelebrieren.“

KVARenje queer-a präsentierte als rauminstallativer Diskurs ein Statement von Ivana Marjanović als Wandarbeit, die erste, eigens für die Ausstellung Space Matters selbstproduzierte Videodokumentation des Border Fuckers Cabaret von QueerBeograd sowie die Aufnahme der zweiteiligen Büchs’n’Radio-Sendung Queer politics in culture and arts – the case of Belgrade, in dessen Mittelpunkt der gleichnamige Vortrag von Ivana Marjanović stand.

Jet Moon (Mitglied des Kollektivs QueerBeograd) schrieb über QueerBeograd und das Border Fuckers Cabaret:

„QueerBeograd ist ein queeres antifaschistisches Kollektiv aus Serbien, das seit 2005 neben anderen Aktivitäten radikal-kulturelle Festivals organisiert. Herzstück des kulturellen Programms der Festivals war die Gründung eines politischen Theaters in der Form des Border Fuckers Cabaret. […]

Als Kollektiv haben wir unsere Arbeit immer darin begriffen, Verknüpfungen zwischen allen Aspekten unserer Gesellschaft herzustellen und zu verstehen, welche Wirkungen diese Faktoren auf uns haben und wie sie ein System der Unterdrückung perpetuieren. […]

In Queer Beograd Border Fuckers Cabaret, einer Show, die die Grenzen zwischen Nationen, Kulturen, Geschlechtern und Geschlechtigkeiten überschreitet, wurden Aktivisten und Aktivistinnen […] zu Performern. […]

Es handelt sich um ein queeres Kabarett, das Themen wie Antimilitarismus, Sexismus, Homophobie und Antikapitalismus verarbeitet und dabei Methoden wie Gelächter und sexiness einsetzt, um sein Publikum hin zu einer radikaleren politischen Sensibilität zu (ver-)führen. […]

Wir wollten uns ursprünglich mit dem Thema Grenzkontrollen im Zusammenhang mit Immigration und den durch die Europäische Union hervorgerufenen ökonomischen und kulturellen Folgen beschäftigen und darin ein Verständnis von queerem und antifschistischem Kampf einbetten. Letztendlich stellten wir eine Show zusammen, die Stücke zu einer Bandbreite von Themen wie Anhaltelager, Genozid, antifaschistischer Kampf und häusliche Gewalt, Kapitalismus sowie Homophobie und Transphobie enthielt. Das hört sich alles nicht besonders lustig an, doch wir sind der Überzeugung, dass es eine Frage der Darstellung ist.“

(zitiert nach: Jet Moon Queer Beograd Borderfuckers Cabaret in: Kunst, Krise, Subversion. Zur Politik der Ästhetik, Hg.: Nina Bandi, Michael G. Kraft, Sebastian Lasinger; Bielefeld 2012, S. 293–302)

Susan KELLY ist Künstlerin, Autorin und Universitätslektorin und lebt derzeit in London. Sie schreibt, gestaltet Performances, Kunst im öffentlichen Raum und Installationen und unterrichtet als Lektorin für Fine Art and Visual Cultures am Goldsmiths College der University of London. Kelly ist als Solokünstlerin und in Kooperation mit der Micropolitics Research Group, dem Carrotworkers‘ Collective und der Precarious Workers Brigade tätig. Im Laufe der vergangenen zehn Jahre hat ihre Arbeit sie unter anderem nach Belfast, New York, Toronto, Helsinki, St. Petersburg, Krasnojarsk, Tallin, Zagreb und Innsbruck geführt.

Ivana MARJANOVIĆ (*1979 in Jugoslawien) ist freiberufliche Kulturschaffende im Bereich zeitgenössische Kunst und Theorie, Mitbegründerin der Galerie Kontekst und Mitglied des Kontekst-Kollektivs in Belgrad.

Sandra SCHÄFER lebt als Künstlerin und Autorin in Berlin. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit der Repräsentation von Gender, Urbanismus und (Post-)Kolonialismus. Sie arbeitet mit Schwerpunkten auf Film und Videoinstallation sowie in kollektiven Zusammenhängen mit KünstlerInnen und TheoretikerInnen in Kabul, Teheran, London, Barcelona und Berlin.www.mazefilm.de

Lan TUAZON (*1976 auf den Philippinen) lebt und arbeitet als Künstlerin in New York. In ihrer Arbeit befasst sie sich mit der Ordnung der Dinge in Bezug auf bebaute und imaginäre Umgebungen. Sie stellte unter anderem im Brooklyn Museum, New York (solo), dem Schloss Solitude, Stuttgart (solo), der Bucharest Biennale 4 und im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart aus.
www.lantuazon.com

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