Über die Naturen der Dinge
Zufälligkeit – Widerständigkeit – Unsichtbarkeit – Begehren
Über die Naturen der Dinge.
Zufälligkeit – Widerständigkeit – Unsichtbarkeit – Begehren
Marianna Christofides · Belit Sağ · Julie Sas · Jan Sieber
Eine Ausstellung im Rahmen des Fellowship-Programms für Kunst & Theorie 2017/18
kuratiert von Andrei Siclodi
Eröffnung:
Fr 06. Oktober 2017, 19.00
Ausstellungsdauer:
10. Oktober 2017 – 25. Jänner 2018
Öffnungszeiten:
Di, Mi 14 – 17, Do 10 – 17 und nach Vereinbarung.
Geschlossen: 22. Dezember 2017 – 5. Jänner 2018 sowie an Feiertagen.
ACHTUNG:
Mi 13. Dezember 2017 aus Krankheitsgründen geschlossen.
Do 14. Dezember 2017 nur bis 14.30 Uhr geöffnet.
Die Ausstellung Über die Naturen der Dinge. Zufälligkeit – Widerständigkeit – Unsichtbarkeit – Begehren präsentiert Arbeiten der aktuellen Büchsenhausen-Fellows Marianna Christofides, Belit Sağ, Julie Sas und Jan Sieber, die im Zusammenhang mit den jeweiligen Arbeitsvorhaben in den kommenden Monaten stehen: es geht um Vernunftsverlust und Zensur als Signifikate unserer Zeit, um Strategien des Ausstiegs aus den Sichtbarkeitsregimen der Gegenwartsgesellschaften, sowie um Kunst und die libidinöse Ökonomie des Begehrens im Kapitalismus. Die drei Künstlerinnen Christofides, Sağ und Sas zeigen jeweils aktuelle Arbeiten. Die Präsentationen der Fellows im Rahmen der Start Up Lectures am 6. Oktober 2017 werden eine Woche nach der Eröffnung ebenfalls in der Ausstellung abrufbar sein, wodurch auch die Recherchen des Theoretikers Sieber zugänglich sein werden.
In ihren Filmessays und -installationen interessiert sich Marianna CHRISTOFIDES für das Nebeneinander geologischer und soziohistorischer Narrative sowie für den Gebrauch bzw. Missbrauch des Naturbegriffs als Rechtfertigung für kulturelle Kontingenz. Während ihres Fellowships in Büchsenhausen wird Christofides an einer „Anthologie der Augenblicke des Verschließens“ arbeiten und dabei den „herumirrenden“ Manifestationen der Unsicherheit nachspüren, angesichts der Tatsache, dass alles um uns herum sukzessive jeglicher Vernunft beraubt wird und langsam außer Kontrolle gerät.
Days In Between, 2015, essay film, 16mm transferred to HD, 40min, 1,33:1,
colour & black-and-white, stereo
Days in Between ist der zweite Film in der Reihe „Works and Days“, die in Südosteuropa entsteht. Der Film handelt von Verfall und spurlosem Verschwinden, unter anderem von Orten. Ein solcher Ort ist das Casino von Constanta an der rumänischen Schwarzmeerküste – ein ikonischer Bau der osteuropä-ischen Jugendstilarchitektur, der seit dem Sturz Ceauşescus geistergleich in dem maroden Badeort verfällt. Ein solcher Ort ist auch eine Halde aus Autoreifen, die sich irgendwo vor einer Kulisse karger Hügel und verstümmelter Ruinen auftürmt. Christofides arbeitet mit dem Wechsel von düsteren Schwarzweißaufnahmen und Farbbildern, die in schneller Frequenz aufeinanderfolgen und von stillartigen Einstellungen unterbrochen werden. Agrarlandschaften, Naturschutzgebiete, Industrie, der Alltag in dörflichen Strukturen, geologische Phänomene – über die „Textur der Landschaft“ sucht sie Zugang zur Geschichte der Region. Die natürlichen Beschaffenheiten reichert sie mit einer Reflektion über die stereotype Stigmatisierung durch westliche Politik an, die mit geologischen Begriffen und geografischen Charakteristika von der Natur vermeintlich vorgegebene Machtverhältnisse definiert: die „Periferie“ der westlichen Hemisphäre.
Dragon’s Back, 2016, 14 einfärbige Risografien, 7 zweifärbige Risografien |
207 × 222,5 cm
Dragon’s Back geht auf die Aufnahme des gleichnamigen geologischen Druckrückens der San Andreas Verwerfung, die sich rund 200km von Los Angeles entfernt befindet, zurück. Der „Drachenrücken“ ist die einzige eindeutig wahrnehmbare Spur dieser tektonischen Verwerfung, die die Grenze zwischen der nordamerikanischen und der pazifischen Kontinentalplatte markiert. Die Aufnahme ist die vergrößerte Reproduktion eines Pressefotos von 1982, das wiederholt als Symbolbild für die seismischen Gefahren, die von dieser Region ausgehen, verwendet wurde. Christofides hat diese Aufnahme auf 21 Risografien aufgeteilt und als eine Bild-Text-Kollage rekonfiguriert, die auf poetische Weise die Gewalt, die von dieser Tektonik ausgeht, in ein Bild der Verletzlichkeit transformiert.
Belit SAǦ erkundet in Büchsenhausen den Begriff der „Zensur“ als Gegenwartszustand. Ausgehend von ihrer eigenen Erfahrung als Künstlerin mit Zensur in der Türkei möchte Sağ einige Künstlerinnen aus diesem Land, die ebenfalls persönlich Opfer von Zensur waren, nach Innsbruck zu einem produktiven Erfahrungsaustausch einladen. Das Projekt will erforschen, wie die individuelle und emotionale Erfahrung von Zensur mit anderen geteilt werden kann, welche künstlerische Taktiken als Antwort gegen repressive Regimes taugen, welche Subjektivitäten Zensur erzeugt und wie diese Subjektivierung durch Affekte verläuft.
Ayhan and me, 2016, digital video, 14:17min
Ayhan Carkin war ein türkischer Polizeioffizier, der in den 1990er Jahren in den kurdischen Gebieten operierte. Dort nahm er an geheimen Kommandos teil, die auf Anweisung des türkischen Staates Kurd:innen ermordeten. In den frühen 2000er Jahren ging Ayhan an die Öffentlichkeit und gestand seine Taten in türkischen Medien. Das ursprüngliche Konzept von Ayhan and me wurde in einem frühen Stadium von Akbank Sanat, einer Kunstinstitution in der Türkei, zensiert – in weiterer Folge wurde die Gruppenausstellung „Post Peace“, für die die Arbeit vorgesehen war, von der besagten Institution zur Gänze abgesagt. Das vorliegende Video entstand in Folge dieses Zensurfalles. Mit der Präzision eines Farocki-Essays erörtert die Arbeit explizit die eigene Produktions- und Zensurgeschichte, befragt die Macht der Bilder, die Rollen und Verantwortlichkeiten von Repräsentation und Geschichtsschreibung, sowie das aufgeladene Verhältnis zwischen Kunstpraxis und staatlicher Kontrolle.
In ihrer Praxis kombiniert Julie SAS Installationen, eigene Schriften, Performance und kollaborative Projekte. Sie stellt Räume und Situationen her, in deren Mittelpunkt das Spielen mit Bedeutungen, Normen und Identitäten steht, um eine Spannung zu bestimmten linguistischen und gesellschaftlichen Parametern zu verdeutlichen. In ihrem Arbeitsvorhaben in Büchsenhausen befasst sich Sas mit offenen Formen der Anonymität, der Unsichtbarkeit oder von Rückzügen, die verschiedene Strategien, Lebens- und Handlungsweisen sowie Artikulationsformen überlagern.
How to slip down under a table, 2015, video, color, sound, 6:11min, Loop
Das Video wurde ursprünglich als Teil der performativen Installation Basically, they wanted to do a revolution entwickelt. Basically, … folgt den Prinzipien und Konventionen eines literarischen Incipits. Als „Incipit“ bezeichnet man die ersten Worte eines literarischen oder fachwissenschaftlichen Textes. Diese stellen einen Erzählrahmen her, führen Figuren ein, die noch unbestimmt sind etc. Die Installation skizziert den Arbeitsplatz einer „Junggesellengesellschaft“ (hier spielt Sas bewusst mit dem Duchamp’schen Begriff), die dabei ist, eine Revolution vorzubereiten, die zum Scheitern verurteilt ist. Das Video folgt der Struktur einer Powerpoint-Präsentation, die die praktische Umsetzung der Taktik des Verschwindens unter einem Tisch Schritt für Schritt vorführt.
Jan SIEBER lebt als Philosoph und Kunstwissenschaftler in Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte beinhalten Ästhetik, Psychoanalyse, Kritische Theorie, Kulturtheorie und französische Gegenwartsphilosophie. In seinem Arbeitsvorhaben für Büchsenhausen interessiert sich Sieber dafür, wie die libidinöse Ökonomie des Begehrens im Kapitalismus sowie Fragen der Subjektivität und Identität in der zeitgenössischen Kunst wiederkehren, reflektiert und kritisiert werden. Wie kann Kunst Subjektivierung inszenieren oder befördern, ohne die Produktion kapitalistischer Subjektivität einfach zu wiederholen oder ihr zuzuarbeiten? Wie kann sie als Kritik der kapitalistischen Ökonomie des Begehrens verstanden werden?
Jan Sieber ist in der Ausstellung ab 17. Oktober 2017 mit dem Video seiner Start Up Lecture vertreten, die gemeinsam mit den Präsentationen der anderen Fellows am 6. Oktober 2017 im Künstlerhaus Büchsenhausen stattfand.
Marianna CHRISTOFIDES wuchs auf Zypern auf und ist derzeit in Berlin tätig. In ihren Arbeiten beschäftigt sich Christofides mit verflochtenen Geschichten, die die unterschiedlichen Ebenen von mehrfach erzählenden Orten konstituieren. Spuren von schleichender Gewalt im räumlichen Gefüge, sowie subtile Manifestationen von Prekarität werden durch Langzeitbeobachtungen und einer physischen Auseinandersetzung mit den erforschten Orten verhandelt. Die oftmals umkämpften Orte werden immer wieder von ihr besucht um deren Singularitäten und latenten Erzählungen aufzugreifen. Die Methode der rekursiven Rückkehr dient dazu, sich den komplizierten und fragmentierten Geschichten von Menschen in verschiedenen Regionen anzunähern.
In 2011 repräsentierte Christofides Zypern auf der 54. Biennale in Venedig. Sie hat internationale Ausstellungen gemacht – unter anderem an der Akademie der Künste in Berlin; am BOZAR, Palais des Beaux-Arts in Brüssel; am Nationalmuseum für zeitgenössische Kunst in Bukarest; an der GAK Gesellschaft für Aktuelle Kunst in Bremen; bei der Videonale. 17, im Kunstmuseum Bonn; im Museo Riso Palermo; im Museum für Gegenwartskunst in Siegen; im Kunstpavillon Innsbruck; im Museum für moderne und zeitgenössische Kunst in Rijeka; auf der 5. Thessaloniki Biennale; im Nationalmuseum für zeitgenössische Kunst, Athen und im Museum für Photographie Braunschweig. Künstlerhäuser umfassen: die Villa Kamogawa, das Goethe-Institut, Kyoto; das Künstlerhaus Büchsenhausen, Innsbruck; Tabakalera in San Sebastian; IASPIS in Stockholm; die Villa Aurora in Los Angeles; das Gaswerk, London. 2019 wurde Christofides für den Berliner Kunstpreis nominiert.
In Kooperation mit dem Künstlerhaus Büchsenhausen veröffentlichte Marianna Christofides das Buch Days in Between (2021).
belit sağ lebt als Videokünstlerin in Amsterdam. Sie studierte Mathematik in Ankara und audiovisuelle Kunst in Amsterdam. Ihre Video-Praxis entwickelte sich in video-aktivistischen Künstler:innen-Gruppen in Ankara und Istanbul, wo sie Projekte wie karahaber.org (2000-2007) und bak.ma (ein wachsendes audiovisuelles Onlinearchiv für soziale Bewegungen in der Türkei) mitinitiierte. Ihre aktuelle Arbeit konzentriert sich auf die ‚Gewalt der Darstellung‘ beziehungsweise die ‚Darstellung der Gewalt‘. Ausgehend von ihrer eigenen Erfahrung mit Zensur in der Türkei lädt sağ im Rahmen ihres Fellowships in Büchsenhausen drei Künstlerinnen aus diesem Land, die ebenfalls persönlich Opfer von Zensur waren, nach Innsbruck ein. Durch einen offenen Austausch mit diesen Künstlerinnen beabsichtigt sağ, die Prozesse offenzulegen, die Künstler:innen auf Grund von Zensur durchmachen müssen, sowie die Auswirkungen auf ihr jeweiliges Leben und den jeweiligen künstlerischen Ausdruck. Das Projekt will erforschen, wie die individuelle und emotionale Erfahrung von Zensur mit anderen geteilt werden kann, welche künstlerische Taktiken als Antwort auf Repression taugen, welche Subjektivitäten Zensur erzeugt und wie diese Subjektivierung durch Affekte verläuft.
Sie absolvierte Residiencies in Rijksakademie van Beeldende Kunsten, Amsterdam vom 2014-2015; und das International Studio and Curatorial Program, New York in 2016. Sağs Arbeiten wurden in zahreichen Museen, Gallerien und Filmfestivals weltweit präsentiert. Unter anderem MOCA, Taipei; Tütün Deposu, Istanbul; Tabakalera Film Seminar, San Sebastian; Toronto/Rotterdam/San Francisco/New York International Film Fest./International Documentary Film Fest. Amsterdam (IDFA); EYE Filmmuseum, Amsterdam; documenta14, Kassel; Marabouparken, Stockholm.
bit.contrast.org
Jan SIEBER (1982 – 2018) studierte Kulturwissenschaften, Philosophie und Kunstwissenschaften an der Universität Bremen, der Leuphana Universität Lüneburg und an der Middlesex University London. Zwischen 2011 und 2017 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Künste Berlin tätig, wo er seine Doktorarbeit im Bereich der ästhetischen Theorie verfasste. Seine Forschungsschwerpunkte beinhalten Ästhetik, Psychoanalyse, Kritische Theorie, Kulturtheorie und französische Gegenwartsphilosophie.
Jan Sieber ist nach kurzer, schwerer Krankheit am 22. Mai 2018 verstorben.
Julie SAS lebt als Künstlerin in Paris. In ihrer Praxis kombiniert sie Installationen, eigene Schriften, Performance und kollaborative Projekte. Sie stellt Räume und Situationen her, in deren Mittelpunkt das Spielen mit Bedeutungen, Normen und Identitäten steht, um eine Spannung zu bestimmten linguistischen und gesellschaftlichen Parametern zu verdeutlichen. Sas‘ neuere Live-Installationen zeigen Körper, die sich an chiffrierten Situationen beteiligen, insbesondere an solchen, die mit der Produktion eines öffentlichen Diskurses, mit Formen der Selbstdarstellung und mit Zitat-Übungen verbunden sind. Diese Arbeiten haben zu einer langfristigen Recherche und zu Experimenten zur Praxis der Anonymität wie auch zu Formen von Unsichtbarkeit in Kunst, Literatur und Musik geführt.
juliesas.blogspot.com
Veranstaltungsort
Künstler*innenhaus Büchsenhausen