Lena Ditte Nissen

Tom Skinner (Dokumentation einer Gruppentherapie von Carl Rogers), "Journey into Self", Filmstill, 1968.

Reflexive Alliance

Mit Reflexive Alliance arbeitet Lena Ditte NISSEN während ihrer Fellowship in Büchsenhausen die Vergangenheit ihrer Familie auf. Sie geht darin Fragen nach generationenübergreifendem Trauma, Wissenstransfer und politischer, wie individueller Positionierung nach.

„Es ist diese Furcht zu versteinern, wenn man über die eigene Schulter zurück in die Vergangenheit schaut“, stellte W.G. Sebald in seiner literarischen Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheitsbewältigung fest.* Lena Ditte Nissen stellt sich dieser Furcht. Der Blick über ihre Schulter fällt auf ihre Urgroßmutter, die Reichshebammenführerin war, und ihren Großonkel, der als Reichsgesundheitsführer bei den Nürnberger Prozessen angeklagt wurde. Ihre Großmutter zeichnet 1945 die Flucht der Familie vor den Alliierten auf und beschreibt die Sorge um die Familie und das Schicksal des Führers.

Dieses Fluchttagebuch bildet zusammen mit den Memoiren der Großmutter das Ausgangsmaterial für die Auseinandersetzung mit der Nazigeschichte der eigenen Familie. Lena Ditte Nissen hat sich gegen eine individuelle oder isolierte Verarbeitung der Texte entschieden und eine besondere Form der kollektiven Analyse und Bewältigung gewählt: Die Künstlerin wendet die in den 1990ern von der Schweizer Kulturanthropologin und Psychoanalytikerin Prof. Dr. Maya Nadig für Verhaltensforscher_innen entwickelte Methode der Deutungswerkstatt an. Eine divers zusammengesetzte Gruppe von Akteur_innen liest, diskutiert und analysiert gemeinsam die Textpassagen in selbstreflexiven Gesprächen. Diese Methode kontextualisiert das Ausgangsmaterial – die persönlichen Aufzeichnungen der Großmutter – und berücksichtigt die ganz persönlichen, sozialen und kulturellen Hintergründe der Protagonisten der Deutungswerkstatt. Unbewusste Dynamiken und das subjektive Erleben der Forscher_innen und Akteure_innen werden bewusst in diesen Prozess miteinbezogen und geben wertvolle psychoanalytische Rückschlüsse. Die gruppenbasierten Analysesitzungen werden von der Künstlerin dokumentiert und von Dr. Jochen Bonz geleitet, der mit Prof. Dr. Maya Nadig zusammenarbeitete und langjährige Erfahrung mit der Methode der Deutungswerkstatt hat.

„In der aktuellen politischen Situation eines zunehmenden Nationalismus in Deutschland und Europa will ich meine Möglichkeiten nutzen, um diese Entwicklung zu kommentieren und mich öffentlich und künstlerisch klar zu positionieren. Ich will mit meiner Arbeit argumentieren und sie als Diskussionsgrundlage nutzen“, sagt Lena Ditte Nissen. 2018 begann sie sich in Arbeiten wie There Is und Questions Without Answers mit generationsübergreifendem Wissenstransfer und Erinnerung intensiv zu beschäftigen. Im Rahmen der Büchsenhausen-Fellowship dringt Lena Ditte Nissen tiefer in die eigene Vergangenheit ein und stellt sich Fragen nach Identität und familiärem Trauma.

Text: Anne Mager

* Sebald zu Hage, in: Volker Hage, Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Essays und Gespräche, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003, 268.

Die dänisch-deutsche Künstlerin und Filmemacherin Lena Ditte NISSEN (1987 *, München) studierte Film und Medienkunst an der Kunsthochschule für Medien Köln, der Universidad Nacional de Colombia und der Kunstakademie Düsseldorf. Ihre Filme, Performances und Installationen wurden international an Institutionen und auf Filmfestivals gezeigt, unter anderem am Museo de Arte Moderno in Rio de Janeiro, Bundeskunsthalle Bonn, Heidelberger Kunstverein, Museo de la Banco República Bogotá, ACUD MACHT NEU in Berlin, Filmmuseen in Frankfurt und Düsseldorf, KAI10|Arthena Foundation, Rubenstein Art Centre, CCA Centre for Contemporary Art Tbilisi, internationale Filmfestivals Edinburgh und Belo Horizonte, CPH:DOX in Kopenhagen, WNDX Festival of Moving Image, 25FPS Zagreb, Festival de nouveau cinéma Montréal, Anthology Film Archive NYC. Sie hatte Künstler-Residenzen bei SOMA Mexico, LIGHT CONE in Paris und lugar a dudas in Cali, Kolumbien.

Neben ihrer künstlerischen Tätigkeit kuratiert Nissen seit 2013 auch Film- und Videoprogramme, die beispielsweise in der Cinemateca Nacional de Colombia und der Messe FAR OFF für zeitgenössische Kunst in Köln gezeigt wurden. 2018 erhielt sie zusammen mit Alisa Berger, mit der sie im Künstlerduo bergernissen arbeitet, das Atelierstipendium des Bonner Kunstvereins.

lenadittenissen.com