Luis Guerra
Gestural Philosophy
Mein Projekt konzentriert sich auf das Werk des französischen Pädagogen Fernand Deligny (1913–1996), vor allem auf sein Archiv, das im Institut Mémoires de l’Édition Contemporaine (IMEC) aufbewahrt wird. Bislang wurde Delignys Werk in Frankreich und darüber hinaus im Wesentlichen aus drei unterschiedlichen thematischen Blickwinkeln heraus betrachtet: Philosophie, Pädagogik und Soziale Arbeit. In jedem dieser Bereiche wurde die Kunst in ihren verschiedenen Erscheinungsformen nur als Werkzeug der Erkundung und Darstellung, nicht aber als direktes Mittel der Forschung betrachtet. Mein Projekt zielt nun darauf ab, einen methodischen Rahmen zu erarbeiten, der auf der Praxis und den materiellen Bedingungen basiert, die Delignys Archiv aufrechterhalten und charakterisieren, um das wichtige Merkmal seiner Praxis als Verfahren künstlerischen Wissens zu enthüllen und zu entfalten.
Die Sprache, die Deligny im Laufe der Jahre hervorbrachte, war ausreichend plastisch, sowohl hinsichtlich Fragmentierung als auch Flüchtigkeit, um sich in Romanen, Gedichten, theoretischen Essays, Briefen, Zeichnungen, Filmen, Aktionen und Treffen manifestieren zu können. Mir scheint, dass Delignys gesamtes Projekt den Zustand des Unbehausten verkörpert, im Sinne einer Praxis, die auf einer ständigen Bewegung des Vermeidens beruht. Deligny vermeidet die Normen, die wir normalerweise voraussetzen, um einer Sache eine Form zu geben. Aus seiner Sicht müssen wir das Aufgeben als Ausgangspunkt nehmen und in der Förderung nicht-disziplinärer Solidaritäten fortsetzen. Deligny tut dies, indem er erst die Universität verlässt, dann Armentières, danach La Borde, indem er wegläuft, sich abwendet, sich treiben lässt. Dies wird seine gestische Philosophie kennzeichnen. Eine gestische Philosophie vollzieht sich durch kleine Gesten, die durch verschiedene Materialien gegenwärtig werden. Sie geschieht im Akt der Gestaltung eines Verfahrens, das jede Fixierung vermeidet.
Das Projekt Gestural Philosophy wird einen neuartigen Ansatz zu Delignys Praxis entwickeln, der auf zwei Wissensachsen außerhalb des akademischen Kontexts verankert ist: Einerseits wird die künstlerische Forschung als wichtigstes methodologisches Werkzeug eingesetzt. Zum anderen basiert der theoretische Rahmen auf dem zeitgenössischen lateinamerikanischen, philosophischen Denken, das sich eine besondere Beziehung zur poetischen, visuellen und performativen Produktion bewahrt hat. Die Forschungsergebnisse werden bei verschiedenen öffentlichen Veranstaltungen und in unterschiedlichen Formaten wie Podiumsdiskussionen, Leseseminaren und Workshops vorgestellt, um einen in der Praxis verankerten kritisch-kreativen Forschungsansatz zu erarbeiten.
Luis Guerra (*1974, Santiago de Chile) ist ein visueller Künstler und Philosoph. Derzeit ist er Universitätsforscher an der Akademie der Bildenden Künste, Universität der Künste Helsinki, Finnland, und Fellow der Post-foundational Contemporary Thought-Forschungsgruppe, die sich mit der kritischen und theoretischen Analyse der zeitgenössischen Ontologien von Negativität und der Frage nach der Gewalt des Fundaments beschäftigt (2022–2025, Universität Barcelona). Er war außerordentlicher Professor für Ästhetik und Theorie der Künste am BAU Universitäts-Zentrum für Kunst und Design Barcelona (2020–2022), Koordinator der GREDITS-Forschungsgruppe für Design und soziale Transformation und Mitherausgeber der wissenschaftlichen Zeitschrift Immaterial, Design, Art and Society.
Luis Guerra absolvierte ein Postdoc-Studium am Center for Artistic Research (CfAR), Universität der Künste, Helsinki, 2019–2020. Außerdem war er Fellow Resident Artist an der Saastamoinen Foundation, Helsinki (2021) und mit dem künstlerischen Forschungsprojekt Wandering Echoes, rounds and litanies as performative maps under confinement Fellow-Stipendiat der Kone Foundation, Helsinki (2020). Im Jahr 2022 erschien sein zweites Buch: Wandering Echoes, a handbook of operative losses, Errant Bodies Press, Berlin. 2017 veröffentlichte er La Inexistencia del Arte, Brumaria Editores Madrid, nach einem Forschungsaufenthalt am Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid, dank der Unterstützung der Santander Foundation (2015–2016).
Seine Praxis bewegt sich in einer Zone visueller Begegnungen zwischen Zeichnung und Handlung, zwischen Schrift und Objekt und verortet sich entlang der imaginären Linie, die die westliche Kultur zwischen Kunst und Philosophie gezogen hat. Unter den Konzepten, die seine künstlerische Forschung umrahmen, spielen vor allem drei eine zentrale Rolle: das Nicht-Domizilierte, das Echoische und das Nicht-Existierende.
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