David Rych: BORDER ACT

BORDER ACT, David Rych, photo: Kruno Vrbat, 2015.

Die mittlerweile Jahre andauernde Krise an den Süd- und Ostgrenzen EUropas, wo täglich hunderte Migrant_innen nach oft monatelangen, lebensgefährlichen Reisen ankommen bzw. diese Grenzen teilweise unter Kriegskampf-ähnlichen Bedingungen durchqueren, ruft auf der Ebene der massenmedial vermittelten politischen Diskurse innerhalb der Europäischen Union immer wieder einen Aspekt hervor: Die Betrachtung der Migrant_innen – und da möchte ich grundsätzlich nicht zwischen politischen Flüchtlingen und sogenannten wirtschaftlichen Migrant_innen unterscheiden – als „unrechtmäßige Eindringlinge“ und kulturell fremde, wenn nicht gar barbarische Subjekte (in der medialen Berichterstattung werden sie oft auch als subjektlose Masse dargestellt). Diese Sicht auf migrantische Subjekte hat eine innere Logik für die Konstitution des europäischen Selbst, denn sie generiert das hierfür notwendige „Andere“. Ein Problem in der Begegnung der Zivilgesellschaft mit dem „Anderen“ ist die oft unfreiwillige Reproduktion dieser Sichtweise. Die ankommenden „Anderen“ werden als Aufklärungsbedürftige identifiziert, von denen allgemein angenommen wird, dass sie notwendigerweise über ihre Rechte und Pflichten als Bürger_innen, aber auch über kulturelle Gepflogenheiten und Unterschiede unterrichtet werden sollen. Diese Aufklärung soll die migrantischen Subjekte auf die aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft anzustrebende „Integration“ vorbereiten. Durch diesen gut gemeinten Vorgang wird jedoch einmal mehr die Reproduktion der Sicht auf Migrant_innen als inferioren und viktimisierten „Anderen“ vollzogen, diesmal als unwissende Subjekte.

Diese Identitätszuschreibungen von Migrant_innen haben sich mit Hilfe der Massenmedien in das Unterbewusstsein breiter Bevölkerungsschichten – unabhängig von deren Klassen- oder vermeintlichen ethnischen Zugehörigkeit – in den Ländern EUropas fest eingeprägt. Die Betrachtungsweise wird vorwiegend auf nationalstaatlicher Ebene propagiert; die Ähnlichkeiten zwischen den regional konnotierten Argumentationen sind jedoch erstaunlich, obwohl die historischen und sozialen Voraussetzungen hierfür innerhalb EUropas je nach Region durchaus unterschiedlich wären. Diese Artikulationen ereignen sich in einem massenmedial und transnational konstituierten öffentlichen Raum, innerhalb dessen Grenzen eine streng formale Regulierung herrscht, die nicht zuletzt auf die fortgeschrittene Kapitalisierung des Journalismus zurückzuführen ist, die sich nicht nur in den privat geführten sondern auch in den öffentlich-rechtlichen Medien ereignet. Während eine „Entkapitalisierung“ dieser Industrie in weite Ferne gerückt zu sein scheint, haben sich in den vergangenen Jahrzehnten im Kunstbetrieb oder von diesem ausgehend sowohl institutionelle als auch von Künstler_innen selbst organisierte Exklaven herausgebildet, in denen ein weitgehend kapitalferner Informationsaustausch und die Verbreitung von kritisch reflektiertem Wissen stattfinden. Das Kunstfeld, zumindest diejenigen Räume darin, die sich als Gegenöffentlichkeit formieren, scheinen eine brauchbare Plattform für Artikulationen von Migrant_innen zu bieten, die sonst keine Chance haben, sich auf selbstbestimmte Weise öffentlich Gehör zu verschaffen. Denn, wie der Kurator und Autor Simon Sheikh festgestellt hat, ist Kunst zu einem Feld von Möglichkeiten, von Austausch und vergleichender Analyse geworden: Sie bietet ein Terrain für alternative Vorschläge und Modelle und kann auf entscheidende Weise nicht nur zwischen anderen Betätigungsfeldern, Wahrnehmungs- und Denkformen sondern auch zwischen stark divergierenden Meinungen und Subjektivitäten vermittelnd agieren.1

Innerhalb dieses Kontextes und aus diesem heraus ist es also auch möglich, sich als migrantisches Subjekt öffentlich und kritisch zu äußern. Aus der prekären Lage heraus, in der sich viele Migrant_innen befinden, können sie hier eine Redefreiheit genießen, die sie mit vielen anderen, ebenfalls prekarisierten Subjekten – ein Großteil der Künstler_innen lebt bekanntlich in prekären Verhältnissen – teilen. Hier wird die subalterne Lage der „Zu-Integrierenden“, in die Migrant_innen von Politik und Bürokratie permanent gedrängt werden,2 zumindest zeitweise aufgelöst und in eine temporäre autonome Zone übergeführt, in der die Disziplinierungstechniken der „Integration“ keine Wirksamkeit zeigen können. Weiters wird dadurch die „Normalität“ der bestehenden Verhältnisse, wonach Migrant_innen sich in ein von der Mehrheitsgesellschaft vorgesehenes soziales Gefüge – und nur darin – einzugliedern haben, als ein gesellschaftlich konstruiertes „Naturalisierungsverfahren der konsensual vermittelten Herrschaftsverhältnisse“3 sichtbar und dadurch nachvollziehbar gemacht. Schließlich wird damit ein Wissenstransfer ermöglicht, der innerhalb der institutionellen Strukturen westlicher Wissensproduktion normalerweise nicht stattfinden kann.

Border Act von David Rych kann insofern als ein Versuch angesehen werden, gesellschaftlich vorherrschende Begegnungsmuster zu überwinden und einen Dialog mit den “Anderen” jenseits des „Integrationsparadigmas“4 zu initiieren. In diesem Projekt erhalten Flüchtlinge die Möglichkeit, sich im fiktionalen Rahmen von Improvisationstheater auf den Umgang mit Behörden vorzubereiten. In Interaktion mit Impro-Theater-Pädagog_innen können sie sich für eine kurze Zeit aus dem verordneten Wartezustand entreißen und produktiv agieren. Inszeniert werden Erstbefragungen der Flüchtlinge durch die Behörden, wobei nicht nur die Flüchtlinge ihre eigene Position einnehmen, sondern auch diejenige der Interviewer. „Wo die Inszenierung mit der persönlichen Haltung und der jeweiligen Geschichte der Protagonisten einhergeht und damit reale Umstände verhandelt, öffnet sich“, so Rych, ein „neuer Raum kritischer Gegenwartsbefragung, durch die gegebene Verhältnisse zwischen Politik, Medien und Öffentlichkeit behandelt werden.“ Dabei wird unter anderem auch klar, dass angesichts der Brutalität, die Menschen auf ihrem Fluchtweg in der Regel erfahren, der Wahrheitsgehalt vorgetragener Fluchtgründe kaum als Bewertungskriterium für die Gewährung von Asyl taugt: Die Traumatisierung und der immer wieder vorkommende Missbrauch während der Flucht lässt die ursprünglichen Fluchtgründe als zweitrangig erscheinen.

In dem Projekt geht es schließlich auch darum, Prozesse sichtbar zu machen, die in der Regel hinter verschlossenen Türen stattfinden und somit keine Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit erreichen. Die immersive Videoinstallation mit sieben Stationen, montiert als Zusammenstellung aus verschiedenen Vorwänden, ist als Spiel mit verschachtelten Wirklichkeitsebenen angelegt, das die Zuschauer_innen mit einschließt. Betrachter_innen werden individuell in die Mitte des Geschehens versetzt und können ohne Einschränkung der Blickrichtung die Szenerie rezipieren. Dabei geht es nicht zuletzt auch um eine audio-visuelle Raumerfahrung, die unsere an klassische kinematografische Bildmontageverfahren konditionierte Wahrnehmung herausfordert und den dokumentarischen Wert der hier erzeugten Bilder kritisch hinterfragt. Man steht als stille_r Betrachter_in unverrückbar zwischen den Befrager_innen und dem jeweiligen Befragten; mit der jeweiligen Blickrichtung übernimmt man jedoch auch eine Position als Gegenüber, vollzieht eine graduelle Identifikation mit der jeweiligen Partei. Diese Entscheidung wird nicht wie im Fernsehen oder Kino durch die Kameraführung vorgegeben sondern bleibt den jeweiligen Betrachter_innen überlassen – einschließlich der Möglichkeit, über das Geschehen hinwegzuschauen.

Ausharrende Betrachter_innen, die sich alle sieben Stationen von links nach rechts ansehen, werden mit einer zusätzlichen, vom Künstler entworfenen Narration belohnt: Die Waldszenen, die bei jeder Station zwischen den Befragungssituationen auftauchen, beschreiben in dieser Reihenfolge einen Wanderweg der Befragten vom Flüchtling zum Angekommenen. Nach dem „Ankommen“ sind die Befragten nicht mehr beim Pirschen durch den Wald sondern beim Lesen, gar bei einer kreativen, bildhauerischen Betätigung zu sehen. Was auf den ersten Blick als kulturalistische Repräsentation missverstanden werden könnte, erweist sich auf den zweiten als Selbstfindungsmetapher, die Möglichkeiten des Umgang in einer scheinbar auswegslosen Situation aufzeigt. Denn, so Rych, es handelt sich hier nicht um ein Ankommen in der Normalität sondern im Limbo, in dieser Wartezone unbestimmter Zeitlichkeit, deren Dauerlänge man zwar nicht selbst beeinflussen aber im Idealfall für sich produktiv nutzen kann.

Die Bedeutung von Arbeiten wie Border Act von David Rych liegt vor allem darin, dass sie das Potenzial besitzen, einen Emanzipationsprozess sicht- und ablesbar zu machen. Ihre politische Dimension liegt in der Erfahrbarkeit der Erschütterung gegebener epistemischer Fundamente der gesellschaftlichen Hegemonie. Durch diese unmittelbare Erfahrbarkeit halten sie ein mündiges Publikum an, seinen Part dazu beizutragen, an diesem Emanzipationsprozess zu partizipieren. Damit eröffnen sie die Möglichkeit einer Verrückung im Sinne eines Zueinander-Näher-Kommens der Positionen, aus denen Beteiligte und Nicht-Beteiligte, Betroffene und Adressierbare jeweils sprechen. Das dadurch produzierte Wissen ist gleichzeitig ein inhärenter Akt der Subjektivierung.
(Text: Andrei Siclodi)

Border Act wurde im Rahmen der stadt_potenziale Innsbruck im Jahr 2014 gefördert. Das Projekt ist zugleich ein Follow-Up im Rahmen des Internationalen Fellowship-Programms für Kunst und Theorie im Künstlerhaus Büchsenhausen, dessen Stipendiat David Rych 2012/13 war und wo der Künstler das Filmvorhaben ursprünglich entwickelt hat.

BORDER ACT
Eine Ausstellung von David Rych
Dauer der Ausstellung: 15. – 30. 01. 2016
Öffnungszeiten: Mi – Fr 11.00 – 18.00; Sa 11.00 – 15.00
Kunstpavillon, Rennweg 8a, Innsbruck

(1) Sheikh, Simon (2009) Objects of Study or Commodification of Knowledge? Remarks on Artistic Research, in Art&Research, Vol. 2, No. 2, www.artandresearch.org.uk/v2n2/sheikh.html, [13. Januar 2016].
(2) Bratić, Ljubomir (2010) Politischer Antirassismus. Selbstorganisation, Historisierung als Strategie und diskursive Interventionen, Vienna: Löcker.
(3) Bratić, Ljubomir (2014) Politischer Antirassismus und Kunstinterventionen, in p|art|icipate, No. 4, 03/2014, www.p-art-icipate.net/cms/politischer-antirassismus-und-kunstinterventionen, [13. Januar 2016].
(4) Bratić, Ljubomir (2010) Politischer Antirassismus. Selbstorganisation, Historisierung als Strategie und diskursive Interventionen, Vienna: Löcker, S. 41-59.

David Rych *1975 in Innsbruck, lebt in Berlin, Mitglied der Tiroler Künstler:innenschaft seit 2008. In seinen Arbeiten widmet sich Rych Fragen der Konstruktion von Identität und Realität – wobei im Besonderen Wissensproduktion und Repräsentation befragt und auf politische Hintergründe Bezug genommen wird. Seinen Filmen gehen Fragen nach Konstitution und Konstruktion von „Gesellschaft“ voran, wobei die jeweilige Thematik für die entsprechende Wahl des dokumentarischen Formats ausschlaggebend ist. In dieser Weise wird das Genre des Dokumentarfilms in verschiedenen Variationen, und somit auch die Bedingungen der Filmproduktion an sich, thematisiert. Rych hat an der Universität Innsbruck (1993-95), an der Akademie der bildenden Künste in Wien (1995-2001) und an der Bezalel Universität in Jerusalem (1999-2000) studiert und ein Postgraduate-Studium an der École Supérieure des Beaux-Arts in Marseille (2004-05) absolviert. Unter anderem war er Teilnehmer an der Manifesta 8 (2010) und der Berlin Biennale (2012). Seit 2014 ist David Rych Professor an der Kunstakademie in Trondheim (KiT) der Norwegischen Universität für Wissenschaft und Technologie (NTNU) in Trondheim, Norwegen.
2012/13 war er Teilnehmer des Fellowship-Programms für Kunst und Theorie im Künstlerhaus Büchsenhausen.

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Veranstaltungsort

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