Weiterkommen. Kunst Sprache Kino Migration

Rainer Bellenbaum, Farida Heuck, Achim Lengerer, Susanne M. Winterling

kuratiert von Andrei Siclodi
Ausstellung im Kunstpavillon, 10.06. – 23.07.2011

Weiterkommen. Kunst Sprache Kino Migration beschäftigte sich mit Verflechtungen zwischen Kunst, Sprache und Kino vor dem Hintergrund von Migrations- und Identitätskonstruktionsfragen: Wie konstituieren sich Sprechpositionen? Wie wird Sprachpolitik als Technik des Regierens angewandt, wie die „Wir“-Zugehörigkeit medial generiert? Wer befindet sich innen bzw. außen? Und wie werden die Verhältnisse zwischen innen und außen definiert? Weiterkommen benennt einerseits den Grundantrieb des Phänomens Migration. Der Begriff steht in diesem Zusammenhang aber ebenso für einen Prozess der Subjektivierung und einen Denkvorgang zum differenzierten Wahrnehmen und tieferen Verstehen unseres Lebens in der postkolonialen Gesellschaft.

Die Ausstellung war das Ergebnis der Auseinandersetzung mit den Projekten, künstlerischen Vorstellungen und Arbeitsweisen der TeilnehmerInnen am Internationalen Fellowship-Programm für Kunst und Theorie im Künstlerhaus Büchsenhausen 2010/11 Rainer Bellenbaum, Farida Heuck, Achim Lengerer und Susanne M. Winterling. Ihre künstlerischen Ansätze, Untersuchungsgebiete und Themen bildeten den Ausgangspunkt der Überlegungen.

Farida Heuck setzt sich in multimedialen orts- und kontextspezifischen Installationen mit dem Spannungsfeld von Kunst und Politik auseinander. Ihre Arbeiten versteht sie als Schnittstelle zwischen den Bedingungen und der medialen Repräsentation von Migration. Dabei stehen Fragen nach Identitätszuschreibung im alltäglichen Leben, deren Stereotypisierung und die daraus folgenden Ein- und Ausschlusskriterien im Vordergrund. In Büchsenhausen arbeitete sie an dem Projekt Sprachpolitik als Technik des Regierens. Darin ging es um die Entwicklung von Utopien für Mehrsprachigkeit, in denen eine Gleichbehandlung der Sprache und Kultur von MigrantInnen und Flüchtlingen im Vordergrund steht. Ausgehend von der Anfang Mai 2011 im österreichischen Nationalrat beschlossenen Einführung der Rot-Weiß-Rot-Card und der damit verbundenen Integrationsnovelle, konzipierte Heuck eine Kundgebung für Mehrsprachigkeit in Österreich, die am 21. Mai 2011 in Innsbruck in der Maria-Theresien-Straße stattfand. Eine angeblich von der Regierung bestellte Kommission zur Vorbereitung der „Mehrsprachigkeitsnovelle“ und der damit verbundenen Einführung verpflichtender Kurse der Sprachen der MigrantInnen für alle ÖsterreicherInnen referierte und diskutierte im öffentlichen Raum über dieses Vorhaben. Bei der Aktion ging es um eine Verrückung des bestehenden Verhältnisses zwischen Mehrheitsgesellschaft und MigrantInnen. Indem die BürgerInnen der Mehrheitsgesellschaft dazu verpflichtet werden sollten, Sprachen der MigrantInnen zu lernen, um ihren Aufenthaltstitel auf nationalem Gebiet bewahren zu können, erscheint die seit Jahren endlos geführte Integrationsdebatte in ihrer nicht hinterfragten Einseitigkeit in einem deutlichen Licht. Die Kommissionsmitglieder – ein Vertreter der Arbeiterkammer, ein Sprachwissenschaftler, eine Rechtsanwältin, ein Politiker und eine Erwachsenenbildnerin – trugen fachspezifisch ihre Statements, Textcollagen aus der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen, den Kopenhagener Dokumenten zum Schutz von Minderheiten, dem Südtiroler Autonomieabkommen und der Integrationsvereinbarung vor.

Die Installation Eine lohnende Herausforderung translozierte den Konferenztisch aus dem öffentlichen Raum in den Kunstkontext und zeigte zwei Mitschnitte der geloopten Aktion. Am Tisch konnte man die einzelnen Statements der Kommissionsmitglieder anhören, indem man die Sitzposition der jeweiligen SprecherInnen einnahm.

Der Medienwissenschaftler, Film- und Kunstkritiker Rainer Bellenbaum arbeitete in Büchsenhausen an dem Buchprojekt Kinematografisches Handeln. Darin untersuchte er die Impulse, Potenziale und Wirkungen kinematografischen Handelns, wie sie sich insbesondere in der heutigen Praxis des Galerie- und Installationsfilms artikulieren. Im Mittelpunkt der kunst-/filmkritischen Untersuchung standen Werke von KünstlerInnen, deren eigene Migrationserfahrungen die Arbeit kennzeichnen.

Für die Ausstellung Weiterkommen produzierte Bellenbaum das experimentelle Video Zuschauerpost/Kinematografisches Handeln. Ausgehend von einem Lokalfernsehbericht über migrantische Jugendliche aus Nordafrika, deren Identität juristisch angeblich nur noch über ihre Strafregister definiert wird, untersucht Bellenbaum anhand von weiteren Interviews mit involvierten Personen und unter Verwendung dekonstruktiver Montagetechniken die mediale Konstruktion der „Wir“-Zugehörigkeit.

Achim Lengerer beschäftigt sich in seiner Arbeit mit sprachbezogenen Fragestellungen, die er in Performances oder Rauminstallationen thematisiert. Im Künstlerhaus Büchsenhausen arbeitete er an einer Buchpublikation in „erzählender Skriptform“ als Weiterverarbeitung bzw. Hineinarbeitung in ein schon bestehendes Skript: François Truffauts und Jean Gruaults L’Enfant Sauvage aus dem Jahre 1969.

Die Installation ZOOOOM – Little Body Heart Beating I: Rehearsals with Sally präsentierte die in Büchsenhausen produzierte, gleichnamige Scriptings-Publikation, bestehend aus einem Reprint der Filmzeitschrift L’Avant-Scène Nr. 107, Oktober 1970, die L’Enfant Sauvage gewidmet war, und einem „Skript“, das aus Gesprächen und Situationsbeschreibungen aus den Probe-Sessions mit Sally Musleh Jaber bestand. Die Requisiten der Performance Iris Fade In, die anlässlich der Eröffnung am 09. Juni 2011 im Künstlerhaus Büchsenhausen stattfand, sowie die für das Ö1 Kunstradio produzierte und auf Vinyl geschnittene Audioarbeit Little Body Heart Beating I: Rehearsals with Sally wurden ebenfalls ausgestellt.

Susanne Martha Winterling interessiert sich in ihrer Arbeit für Zusammenhänge zwischen individualisierten Identitäten, sozialen Machtstrukturen und Architektur bzw. deren Niederschlag in der künstlerischen Produktion. Für die Ausstellung Weiterkommen entwickelte sie eigens für den Kunstpavillon eine mehrteilige Rauminstallation, die einerseits die spezifische Urbanität der Stadt Innsbruck und die darin eingeschriebenen Geschlechterzuschreibungen thematisierte, andererseits das abstrakte Verhältnis zwischen innen und außen in unterschiedlichen Konstellationen konkretisierte, um dieses Verhältnis zugleich ins Wanken zu bringen. Hierfür bediente sie sich sowohl visueller als auch akustischer und olfaktorischer Mittel. Eine fotografische Repräsentation der nächtlichen „Skyline“ Innsbrucks in modernistischem Schwarz-Weiß, auf der neben Zaha Hadids Hungerburgbahnstation auch die phallischen Brückenpfeiler der Konstruktion den Vordergrund dominieren und ein Kirchturm den Hintergrund flankiert, überzog wie eine Haut die Rückwand im Inneren des Kunstpavillons. Die Wahrnehmung der räumlichen Translokation von außen nach innen wurde durch den im Raum spürbaren Geruch von Asphalt intensiviert. Ein Tisch mit einer Teekanne darauf bildete eine Referenz zur ursprünglichen Funktion des heutigen Kunstpavillons als Teehaus. Ein 16-mm-Projektor zeigte schließlich im Loop ein Vogelnest auf einer reflektierenden Folie liegend, davor ein weißes Tuch mit Falten. Das Nest flatterte immer wieder leicht im Wind, um am Ende der Sequenz weggeblasen zu werden.

Das Spiel mit Lichtreflexionen und Oberflächen, die Fragilität der Nestbehausung und ihre unmögliche Verankerung an einem Ort riefen eine Vielzahl von Assoziationen hervor und stellten einen Dialog mit den anderen Arbeiten in der Ausstellung her.

Rainer BELLENBAUM (*1957) Medienwissenschaftler, lebt und arbeitet als Film- und Kunstkritiker in Berlin und Wien. Künstlerische Kurzfilme und Kooperationen (ab 1983), Kameraarbeit, Recherche und Berichte für TV-Anstalten u. a. (1986–2005), Autor für Kunstmagazine (Texte zur Kunst, springerin, Camera Austria) sowie Buchpublikationen (seit 2004).

Farida HEUCK ist bildende Künstlerin und lebt in Berlin. In ihrer Arbeit setzt sie sich immer wieder mit dem Spannungsfeld von Kunst und Politik auseinander. Ihre multimedialen orts- und kontextspezifischen Installationen versteht sie als Schnittstelle zwischen den Bedingungen und der medialen Repräsentation von Migration. Dabei stehen Fragen nach Identitätszuschreibung täglichen Leben, deren Stereotypisierung und die daraus folgenden Ein- und Ausschlusskriterien im Vordergrund.
www.faridaheuck.net

Achim LENGERER lebt als Künstler in Berlin und Amsterdam. In seiner Arbeit beschäftigt er sich mit sprachbezogenen Fragestellungen, die er in Performances oder Rauminstallationen thematisiert. Er initierte mehrere kollaborative Projekte, unter anderem die freitagsküche in Frankfurt und Berlin oder voiceoverhead, eine Zusammenarbeit mit dem Künstler Dani Gal. Seit 2009 betreibt Lengerer den mobilen Ausstellungsraum und Verlag Scriptings. Scriptings funktioniert als diskursive Plattform, ergänzend und parallel zu Lengerers Projekten. KünstlerInnen, AutorInnen, GrafikdesignerInnen, PerformerInnen ebenso wie VerlegerInnen werden zur Teilnahme eingeladen – all jene also, die sich in ihrem jeweiligen Produktionsprozess der Formate „Skript“ und „Text“ bedienen.
www.scriptings.net

Susanne M. WINTERLING ist eine Künstlerin, die sich in verschiedenen Projekten mit dem Thema Identität und Individualität im Spannungsfeld der Gesellschaft beschäftigt. Sie lebt in Berlin.
www.susannewinterling.de

Veranstaltungsort

Kunstpavillon
Rennweg 8a
A-6020 Innsbruck

+43 512 58 11 33
office@kuveti.at