Kerstin Schroedinger

Kerstin Schroedinger, "Bläue/Blueness", Videopräsentation, Basel 2016

Sonic Chemicals – Chromatic Pharmaceutics

In Fortführung ihrer Recherchen zu den historischen und materiellen Bedingungen von analogem Film nimmt Schroedingers Vorhaben in Büchsenhausen seinen Ausgangspunkt in der Geschichte der chemischen Industrie und insbesondere der Pharma-Industrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die ebenso wie die Fotoindustrie ihren Ursprung in der Synthetisierung von Farbstoffen hatte. Das Projekt ist eine Materialrecherche, die sich mit formalen, sozialen, ökonomischen und politischen Fragen der Bildproduktion mittels einer experimentellen, performance-basierten Bildproduktion auseinandersetzt. Schroedinger arbeitet mit Ansätzen, die die Dominanz des Visuellen über die materiellen Aspekte des Filmbildes zu dekonstruieren sucht.

In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren wurde DiNitroChlorBenzol (DNCB), eine Chemikalie, die aus einem synthetischen gelben Farbstoff gewonnen und in der Fotochemie als Entwickler im Farbfotobereich verwendet wird, innerhalb von AIDS-aktivistischen Kreisen mangels Alternativen als Medikament zur Behandlung des Kaposi-Sarkoms verwendet. Auf die Haut aufgetragen, ruft die Chemikalie eine Immunreaktion hervor, die zu einer zeitweiligen Verbesserung der Symptome führen kann. Seit den 1990er Jahren lässt sich auch beobachten, dass „alternative“ Versorgungsmodelle aus aktivistischen Strukturen der AIDS-Bewegung mehr und mehr Einzug im Mainstream halten. Prinzipien der Selbstversorgung, Bio-Lebensmittel oder sogenannte alternative Heilmethoden, wie Akupunktur und Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) sowie der allgemein zunehmende Gesundheitswahn stehen möglicherweise damit in Verbindung. Mit der Anwendung der Kombinationstherapie mit anti-retroviralen Medikamenten seit Mitte der 1990er Jahre verschiebt sich die AIDS-Krise vermehrt in Bereiche des Globalen Südens, vor allem nach Afrika südlich der Sahara. Der Schweizer Pharma-Konzern Hoffman La Roche verweigerte jahrelang den Zugang zu Forschungsergebnissen und ist zudem verantwortlich, aus überhöhten Preisen für patentierte Medikamente zu profitieren.

Gleichzeitig kommt es in den 1990er Jahren zum Niedergang der analogen Fotografie. Unter Filmemacher_innen gibt es allerdings den Trend, sich immer mehr von der Abhängigkeit von techischen Entwicklungen und filmindustriellen Trends zu lösen und Film wieder eigenständig zu entwickeln. Auf sogenannten Film Farms sind seit einigen Jahren nun Filmemacher_innen damit befasst, die chemischen Substanzen, die in der Filmentwicklung notwendig sind, mit selbstangebautem Bio-Gemüse zu ersetzen, etwa mit Extrakten aus Brokkoli oder Paprika.

Ergebnisse und Überlegungen der Recherche werden in ein Filmprojekt unter dem Arbeitstitel DNCB vs Brokkoli, der in Zusammenarbeit mit dem Künstler und Filmemacher Oliver Husain (www.husain.de) entwickelt wird, fliessen. In Büchsenhausen möchte Schroedinger gemeinsam mit Husain ein Präsentationsformat für dieses Projekt erarbeiten – in Form von Workshops, Laboranordnungen, Vorträgen und Installationen.
Darüber hinaus wird sie während der Recherchephase eine Reihe von Materialstudien entwickeln, in denen sie die Zusammenhänge der historischen Bedingungen der chemischen Produktion am Rhein in Mitteleuropa und die aktuellen Verflechtungen von globalen Pharma-Konzernen untersuchen möchte. Dabei interessiert sie gleichsam die Rolle der Flüsse in der Industrialisierung Mitteleuropas generell und, bezugnehmend auf die örtlichen Besonderheiten Tirols, speziell auch die Rolle des Inn – als Energiequelle aber auch als Transportweg und Abfallgrube – und inwiefern beispielsweise die Geschichte von Sandoz in Kundl damit in Zusammenhang gebracht werden kann.

Kerstin Schroedinger arbeitet in den Bereichen Video, Sound und Performance. Ihre historiographische Praxis befragt die Mittel der Bildproduktion, historische Kontinuitäten und ideologische Darstellungen der Repräsentation. Ihre Arbeiten und kuratorische Praxis sind meist kollaborativ. Zu ihren jüngsten Arbeiten gehören Der angebliche Körper (Performance), aufgeführt beim Images Festival Toronto und bei Les Complices * Zürich 2017, Fugue (Film, 2015) sowie Rainbow’s Gravity (Video, 2014) und Red, She Said (Video, 2011) beide in Zusammenarbeit mit Mareike Bernien. Ihre Arbeit wurde unter anderem im Whitney Museum of American Art, Anthology Film Archives New York, Forum Expanded der Berlinale, Kurzfilmfestival Oberhausen, Internationales Filmfestival Toronto, Gasworks London, Arnolfini Bristol, Whitechapel Gallery London gezeigt, Ausstellungen unter anderem im MIT List Visual Arts Center Boston (2016), PhotoCairo #6 (2017), FMAC Mediathèque Genf (2016), Die Schule von Kiew – 2. Kiew Biennale 2015, Helmhaus Zürich (2015), Kunstpavillion Innsbruck (2017).