Jan Sieber
Kunst und die kapitalistische Ökonomie des Begehrens
In seinem Arbeitsvorhaben für Büchsenhausen interessierte sich Sieber dafür, wie die libidinöse Ökonomie des Begehrens im Kapitalismus sowie Fragen der Subjektivität und Identität in der zeitgenössischen Kunst wiederkehren, reflektiert und kritisiert werden.
Die kapitalistische Gesellschaft verdrängt und unterdrückt nicht einfach menschliches Begehren, so dass dessen Befreiung per se subversiven Charakter hätte. Sie macht sich menschliches Begehren aber auch nicht bloß als eine Art natürliche Ressource in entfremdeter Form dienstbar. Vielmehr bringt Kapitalismus es überhaupt erst als ein bestimmtes Begehren hervor, und zwar als ein Begehren, das den kapitalistischen Verwertungszusammenhang befördert, aber zugleich auch als ein solches, dessen Negativität verdrängt und entstellt werden muss. Dieser strukturelle Antagonismus rückt die psychoanalytische Theorie unbewussten Begehrens (Freud und Lacan) und Marxens Analyse der Ware Arbeitskraft zusammen.
Offensichtlich wird das zum Beispiel an der zunehmenden Kommodifizierung von Identitäten (Gender, Sex, Herkunft, Klasse, politische Ausrichtung, Religion, Geschmack und mehr). Leben im Kapitalismus ist ein permanentes Anrufungsgeschehen. Ständig werden wir aufgerufen, Individuen zu sein, Individuen mit einer bestimmten Identität, die es zu repräsentieren gilt. Zugleich muss die Negativität, die die Produktion von Identität einschließt, das, was nicht identisch ist, verdrängt werden. Das Begehren soll stets identifizierbar bleiben, nicht das Gesetz des Realitätsprinzips verletzen und im Rahmen des vom Markt Angebotenen oder auf Weisen befriedigen werden, die es symbolisierbar und verwertbar machen.
In Kunst geht Begehren, wie Adorno argumentiert, als ein Moment ein, wodurch es sich als Arbeit, als Produktivkraft im Marx’schen Sinne objektiviert. Kunst handelt demnach immer auch davon, was es heißt, ein begehrendes Subjekt unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise zu sein. Sie als Schauplatz der antagonistischen Struktur des Begehrens zu begreifen, darf aber nicht bedeuten, Kunstwerke auf subjektive Zeichensysteme des sie produzierenden Individuums zu reduzieren, sie als Ventile für dessen psychisches Leiden und Mittel seiner/ ihrer Anpassung an die gesellschaftliche Realität zu verklären. Ebenso falsch ist die vitalistische Phantasie der Befreiung einer quasi-natürlichen Kraft des Begehrens durch Kunst. Ihre Objektivität liegt vielmehr im Ausdruck der im Begehren bzw. in Arbeitskraft verdichteten Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise. Kritisches Potential hat sie dort, wo sie der Negativität des Begehrens Raum verschafft und die entstellten Phantasien eines vom Kapital unberührten, erfüllten Begehrens durchkreuzt. Maßstab solcher in der Kunst formulierter Kritik wäre nicht die Entwicklung eines bestimmten Bewusstseins von etwas, sondern Ausdruck der Negativität des Subjekts und die Entlarvung affirmativer Positivierungen von Subjektivität als von den Widersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise befreite Zone.
Ausgehend von solchen Beobachtungen und mit Bezug auf die Psychoanalyse und die Kritische Theorie wollte das Projekt sich damit beschäftigen, wie zeitgenössische künstlerische Praktiken die Problematiken von Subjektivität, Begehren und Identität thematisieren, und Formen der Subjektivierung nahelegen, die dem Begehren nicht einfach entsagen, sondern queere oder andere nicht-identitäre Formen seiner Rettung vorschlagen. Wie kann Kunst Subjektivierung inszenieren oder befördern, ohne die Produktion kapitalistischer Subjektivität einfach zu wiederholen oder ihr zuzuarbeiten? Wie kann sie als Kritik der kapitalistischen Ökonomie des Begehrens verstanden werden?
(Textvorlage: Jan Sieber)
Jan SIEBER (1982 – 2018) studierte Kulturwissenschaften, Philosophie und Kunstwissenschaften an der Universität Bremen, der Leuphana Universität Lüneburg und an der Middlesex University London. Zwischen 2011 und 2017 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Künste Berlin tätig, wo er seine Doktorarbeit im Bereich der ästhetischen Theorie verfasste. Seine Forschungsschwerpunkte beinhalten Ästhetik, Psychoanalyse, Kritische Theorie, Kulturtheorie und französische Gegenwartsphilosophie.
Jan Sieber ist nach kurzer, schwerer Krankheit am 22. Mai 2018 verstorben.