Sam Richardson

Selbstporträt vor dem körperlich veränderten St. Wilgefortis-Schrein, Tirol, Österreich (August 2019)

A Saintly Curse Continued: The Legacy of What is Seen and Unseen

Für das Fellowship im Künstlerhaus Büchsenhausen möchte ich die Forschung, Dokumentation, Entwicklung und Produktion eines laufendes Projekt fortsetzen und erweitern. Im Mittelpunkt steht dabei die katholische St. Wilgefortis. Diese war entweder eine heidnische Adlige oder die Prinzessin von Portugal (ihre Herkunft ist umstritten), die von ihrem Vater einem Freier versprochen wurde. Sie wollte diesen Mann jedoch nicht heiraten und betete in der Nacht vor der Hochzeit zu Gott, er möge sie für den Verlobten abstoßend machen. Als sie aufwachte, war ihr ein Bart gewachsen. Der Freier sagte die Hochzeit ab. Der erzürnte Vater ließ schliesslich die Tochter kreuzigen.

Die heilige Wilgefortis wurde zur Schutzpatronin für die Befreiung von Sorgen. Historisch gesehen wird sie von denen verehrt, die eine Entlastung wünschen – insbesondere Frauen, die sich von gewalttätigen Ehemännern oder Situationen im häußlichen Umfeld befreien wollen, sowie von Überlebenden sexueller Übergriffe, Vergewaltigungen und Inzest. Sie wurde aber auch von Unfreien verehrt, also von Häftlingen und anderen Menschen in Gefangenschaft. Je nach Region und Epoche kennt man sie unter anderen Namen, wie St. Kümmernis (Deutschland, Österreich), St. Uncumber (England) und St. Liberata (Italien).

Im Zuge einer liturgischen Säuberung wurde die Heilige Wilgefortis 1969 aus dem katholischen Kalender gestrichen. Viele in der Kirche sahen in ihr eine Verunglimpfung Christi – einen nicht-binären Körper, der Christus ähnelte und somit dessen Darstellung durch die Assoziation mit Queerness negativ beeinflusste. Sie aus dem Kalender zu streichen bedeutet für mich die Ausradierung einer Geschichte geschlechtsspezifischer Gewalt. Wenn die Person, zu der man um Befreiung betet, als Fake dargestellt wird, dann wird auch die Realität bzw. die Geschichte der Gewalt gefälscht.

Meine persönliche Verbindung zu Wilgefortis wurzelt in meinem hormonellen Syndrom, dem Polyzystischen Ovarialsyndrom (PCOS). In der medizinischen Fachwelt als „Dieb der Weiblichkeit“ bezeichnet, gehört die „Vermännlichung“ weiblichen Körpers zu den Hauptsymptomen von PCOS. Dabei ist der männlich geprägte Haarwuchs ein typisches Symptom, das auch bei mir auftritt. Ich wäre eine „bärtige Dame“, wenn ich nicht eine bestimmte Routine einhalten würde. So gesehen fühle ich mich, wie auch viele andere Menschen mit PCOS, dieser Heiligen verbunden.

Ich habe viele Jahre lang eine Selbstdokumentation durchgeführt, Interviews mit und Fotos von anderen Menschen mit PCOS gemacht, alles in Verbindung mit laufenden Recherchen über das Syndrom, den medizinisch-industriellen Komplex, und queere Narrative gegenderter Representationen, wie etwa derjenigen der St. Wilgefortis. Der im e-flux Journal veröffentlichte Essay A Saintly Curse: On Gender, Sainthood and Polycystic Ovarian Syndrome (März 2020) stellt den bisherigen Höhepunkt dieser Arbeit und meiner Zeitreise dar. Seit der Veröffentlichung dieses Textes wollte ich noch tiefer und umfassender darüber reflektieren, wie man über zeitgenössische Realitäten und das Verständnis von Gender, Queerness und einer Geschichte von Gewalt und Unterdrückung produktiv sprechen kann.

Im Rahmen der Büchsenhausen Fellowship werde ich meine Forschungen über die Heilige Wilgefortis und die Communities, die an Orten in Tirol leben, die im Laufe der Jahrhunderte als Pilgerstätte und Orte der Verehrung für sie galten, vertiefen. Diese historisch „lautlosen“, queeren Geschichten, die es überall auf der Welt gibt, leben auch in der Gegenwart weiter. Als Fotograf:in, Autor:in und Videokünstler:in möchte ich diese Geschichte aufgreifen und innerhalb derer gegenwärtiger (Kultur)Landschaft diejenigen finden, die sich weiterhin darauf beziehen buw. Sich mit ihr identifizieren. Ich bin der festen Überzeugung, dass Geschichte nicht nur aus der Vergangenheit besteht, sondern auch aus der Gegenwart und einer unbekannten Zukunft. Aus diesem Grund werde ich mich auf eine Reihe von Arbeiten konzentrieren, die regionale sowie globale Aufzeichnungen von Queerness, Resilienz und Überlebenshandlungen miteinbeziehen und gleichzeitig die verschiedenen Erkennungsmarker, die diese Erfahrung beeinflussen, berücksichtigen.

In diesem Zusammenhang habe ich mich auch mit gewaltvollen Geschichten, die sich bis heute wiederholen, beschäftigt. Der Arbeitsaufenthalt in Innsbruck wird mir eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit der lokalen Geschichte ermöglichen. Ob Nationalsozialismus und das, was davon bis heute weiter wirkt, oder Gender-spezifische gesellschaftliche Erwartungen, die im Christentum wurzeln – all das trägt zum Verständnis dafür bei, wie Ikonografie und Geschichte in die Gegenwart eingebettet werden und sowohl im Privaten als auch im Öffentlichen fortbestehen.

Text: Sam Richardson

Sam Richardson ist ein:e interdisziplinäre:r Künstler:in, die:der in Los Angeles/Kalifornien in den Bereichen Fotografie, Video, Sound und Schreiben arbeitet. Als visuelle:r Künstler:in, die:der mit dokumentarischen Mitteln arbeitet, strebt Richardson danach, zu verlernen, alte Wege aufzubrechen und neue zu finden, um Bilder zu schaffen, die Kollaborationen und fotografische Beziehungen im Kontext von Körper, Trauma und Fürsorge hinterfragen. Sie* nutzt ihre* Erfahrung als Krisenberater:in für (Katastrophen-)Überlebende in New York und Los Angeles, Abolitionismus und persönliche Geschichte, um ihre* Arbeit mit einer Praxis der Fürsorge und der Erforschung persönlicher sowie gemeinsamer Erfahrungen zu verbinden.
Im Jahr 2020 schloss Richardson das Studium der Fotografie am MFA-Programm der UCLA ab, wo sie* auch als Assistent:in tätig war, ebenso im Fachbereich Kunsterziehung. Richardsons Ziel in diesem Kontext ist, eine möglichst umfassende und inklusive Form der Kunsterziehung, von der Theorie bis zur Praxis, zu entwickeln. Im Winter 2020-21 war Richardson Artist and Instructor in Residence beim Urbano Project in Boston. Gegenwärtig ist sie* Kommunikationsdirektor:in und Teaching Artist bei Creative Acts. Im Herbst 2021 unterrichtet Richardson einen Grundlagenkurs am California Institute for the Arts sowie einen Fotografiekurs beim Las Fotos Project.
http://samxrichardson.com